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Zeiten des Wandelns

Manuela Wicher

Als wir, meine Geschwister, Mann und Hund, am Neujahrsmorgen traditionell unseren Neujahrsspaziergang machten, war über dem weiten Januarhimmel ein ebenso weiter Regenbogen gespannt. Wie eine Brücke in eine andere Welt. Diese Kombination von Jahresbeginn, Familie, Ritual und Naturphänomen weckte ein starkes Gefühl von Verbundenheit und Zuversicht in uns. Das Schlechte aus dem alten Jahr hinter uns lassen, hoffnungsvoll Neues wagen – das war unser Übergangsgefühl.

Eine Woche später lag ich im Krankenhaus. Durch einen winzigen achtlosen Moment wurde mein Leben für eine sehr lange Zeit umgedreht und mein hoffnungsvolles Neujahrsgefühl in ein „Durchhalten-Stark bleiben-Gefühl“ umgewandelt. Ich musste  meine Ziele überdenken, meine Pläne ändern und meine Grenzen erkennen. In den vergangenen sechs Monaten gab es ständig Übergänge und erste Male, für Außenstehende mochten sie banal wirken, für mich und die Meinen waren es Momente mit einer gänzlich neuen Intensität.

Im Frühling war ich mit meinen Eltern ein paar Tage verreist. Diese gemeinsame Zeit einmal im Jahr ist ebenfalls ein Ritual, das eine Wandlung einleitet. Denn es liegt eine gewaltige Kraft darin: Meine Eltern scheinen sich in diesen Tagen auf wundersame Weise zu verjüngen. Ein Gefühl von Frische und Neuanfang legt sich über sie, das sie über die nächsten Wochen trägt.

Nun ist Sommer. Für viele die ersehnte Jahreszeit. Sie bringt uns zum Leuchten, ganz besonders jetzt, in der Zeit der Fußball-EM. Plötzlich steht Europa zusammen, fiebert, feiert, singt und tanzt. Das ist bedeutsam, auch wenn man kein Fußballfan wäre. Denn es lässt das erschütternde, provokant-aggressive Gebaren der AfD und anderer Rechten und auch die Zerrissenheit dieses Landes eigenartig verschwommen werden.

Innerhalb einer paradox kurzen Zeit scheint diese Nation so enggeschmiedet wie kaum. Und Europa ist keine bloße Außendekoration mehr, sondern ein Gefühl: eine entlastende, geborgene Verbundenheit. Das macht glücklich.

Nach Auffassung des Psychologen und Glücksforschers Ed Dienen sind die wesentlichen Zutaten für Glück: eine Aufgabe, in der wir uns kompetent fühlen, enge soziale Bindungen zu anderen Menschen, immer wieder mal was Neues im Leben und eine Prise Spiritualität. Ich erwähne das, weil wir Menschen dazu neigen, Glück in materiellen Dingen zu suchen, obwohl wir es eigentlich besser wissen. Geld hilft, keine Frage, aber es ist nicht der „Glücksmacher“. Denn dann wären die Superreichen die allerglücklichsten Menschen unter uns und das sind sie eben nicht.


Alles wandelt sich ständig, man ist niemals exakt am gleichen Platz. Für manche Menschen mag das ein erschreckendes Phänomen sein, aber für mich ist es ein Lebensprinzip, aus dem ich Kraft und Hoffnung schöpfe. Wir sind frei darin, neue Räume zu betreten. Gedanklich gemeint.

Jeder Mensch auf der Welt, in allen Kulturen, zu allen Zeiten, sehnt sich danach, glücklich zu sein. Es wäre schön, wenn uns dieses fiebrig-wogende EM-Glücksgefühl durch die Krisenzeiten tragen kann, wenn es uns hilft, einen Neuanfang zu wagen. Als Menschheit, als Europa, als Deutschland. Darf man sich ja mal wünschen.


Lebt glücklich, so gut es geht und seid gegrüßt, eure Manu W.

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