Die Ahnung von Etwas
- Manuela Wicher
- 2. Mai
- 2 Min. Lesezeit
Dieses Jahr hat begonnen und war unversehens plötzlich mitten im April. Vom müden Schneegrau ins irisierende Hellgrün. Ich habe versäumt, Pläne in die Zukunft zu machen oder in der Vergangenheit zu hängen. Das Hier und Jetzt hatte mich vollkommen eingenommen. Diese überdrallen Tage, die es mit der Ewigkeit aufnehmen: Erst ist meine Tochter umgezogen, dann meine Mutter. Für beide waren es große, lebensverändernde Wechsel. Der einzige Unterschied ist, dass meine Tochter fünfundzwanzig ist und meine Mutter dreiundachtzig.
Beim Kisten packen und räumen krochen mir ständig zwei Gedanken durch meinen Kopf: Was, wenn meine Mutter ihre Entscheidung bereuen würde? Was, wenn das Sprichwort wahr werden würde: Alte Bäume verpflanzt man nicht?
Ich räumte Schränke und Kommoden aus, schleppte Kisten und Möbel durch mein altes morsches Kindheitshaus, über schiefe knarrende Holztreppen, treppauf, treppab und saß die Abende erschöpft und mit diesen zwei Fragen im Kopf auf einem Holzbänkchen auf meinem Kindheitshof. Dort, wo ich mit meinem Omchen Bohnen geschnippelt und Kartoffeln geschält hatte, meinen Kindheitshund gekrault habe und meinen ersten Liebeskummer mit einer Flasche „Pfeffi“ ertränkt habe.
Vier Wochen später lief ich durch das fast leere Haus mit seinen verwaisten Zimmerchen, ich lief über den Hof in die Scheune, in der ich mit meinem Bruder auf dem Dachboden gespielt hatte, durch den Garten, an unserer Feuerstelle vorbei und den schwarzdunklen Beeten, auf denen wir Erdbeeren und Erbsen und Möhren geerntet hatten, vorbei an den Tulpen und Osterglocken, den Apfel- und Pflaumenbäumen bis zu dem kleinen Bächlein, das durch die Hohle fließt. Ich setzte mich unter den Weidenbaum, an die Stelle, wo unser Hund vor fast vierzig Jahren begraben wurde und war innerlich ganz still. So wie die ganzen letzten drei Monate. Ich hatte viel nachgedacht. Über früher und über heute. Darüber, wer wir waren und darüber, wer wir sind. Und wer wir sein wollen.
Ich schätze, alle unsere Leben bestehen aus Verlusten und Schicksalsschlägen, auch aus Demütigungen und Einsamkeit. Aber wir sind unserer Vergangenheit nicht ausgeliefert, denn wir haben immer eine Wahl. Auch die Wahl, uns aus dem alten Schmerz, den vergangenen Niederlagen und der alten Traurigkeit zu befreien.
Meine Mutter hat ihn gemacht, den Befreiungsschlag. Hat ihr Zuhause, in dem sie ein ganzes Leben gelebt hatte, verlassen und noch einmal neu angefangen. Mit jedem Stück Heimat, das sie aus den Kartons nahm und in ihre neue Wohnung platzierte, ließ sie neues Leben in ihr altes rein. Setzte die Einzelteile zu einem Ganzen zusammen und fing das Licht wieder ein.
Es gibt ein tibetisches Sprichwort, dem zufolge sich Schicksalsschläge in Chancen verwandeln können. Meine Mutter gehört zu einer Generation, die wirklich harte Zeiten durchgemacht hat. Außerdem hatte sie in ihrem Leben noch mit ganz außergewöhnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Offenbar kann Mut und Stärke gerade dadurch entstehen. Weil es keinen Raum mehr zur Verstellung gibt. Weil man dann der Wahrheit näher kommt.
„Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei. Lasst das Haus, kommt hinaus!
Windet einen Strauß!“ Das finde ich auch.
Von Herzen, eure Manu W.
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