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Manuela Wicher

Im Mai

Im Mai fehlt mir eine Stunde Schlaf. Nicht wegen der Zeitumstellung, die liegt ja schon Wochen zurück. Nein, im Mai beginnt am Morgen noch vor Sonnenaufgang bei uns im Garten eine seltsame Vogelhysterie. Der Amselhahn beginnt 4:20 zaghaft zu singen und steigert sich von Minute zu Minute. Mittenhinein tirilieren dann nachfolgend Kohlmeise, Stieglitz und Fink. Ein irres Vogelgelächter, das in den beginnenden Tag hineinwächst und dann langsam abflacht. Es klingt lächerlich, aber ich werde wach, sobald das erste zaghafte Pfeifen zu hören ist. Liege im Bett und bin eine Schlaflose, die den Vögeln beim Singen zuhört. Es ist hauptsächlich der Mai, habe ich gelesen, an dem die Vogelwelt außer Rand und Band ist. Weil es um die Suche nach der richtigen Partnerin geht, um Nestbau und Fortpflanzung. Meist singen die Männchen, um ihre Reviere abzustecken und die Weibchen anzulocken. Es ist wie eine Beschwörung, ein Liebesritual. An diesen frühen Morgen im Mai, in diesen Zeiten zwischen Wachen und Schlafen, kommen die Erinnerungen. Ich erinnere mich an meine erste Liebe. Ich bin 6.Klasse und so verknallt, dass ich mir nicht vorstellen kann, jemals einen anderen zu heiraten. Steffen sitzt zwei Bankreihen vor mir und hat keine Ahnung. Ich werde es ihm nie sagen und er wird es nie wissen. Aber die Erinnerung an diese Euphorie der Verliebtheit macht mich froh. Wie an einer Kette steigen die Erinnerungen aus meinem Gehirn. Sie erzählen das Leben, das ich schon hatte: Ich bin gerne verliebt. In Bücher, Essen, Musik, Landschaften. Ich bin eine leidenschaftliche Schwärmerin und sträube mich gegen wiederkehrende Monotonie. Ich bin eine Punkerin und erkenne ungern Autoritäten an.

Meine Erinnerungen zeigen mir, wer ich war und welchen Weg ich gegangen bin. Das klingt jetzt furchtbar pathetisch, ich weiß. Aber auch das bin ich offensichtlich, immer etwas pathetisch und leicht sentimental. Und du so?

Einen sehr schönen Mai und ein köstliches Erwachen an jedem neuen Tag, das wünsche ich dir.

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