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Manuela Wicher

Freiheit im Kopf

Meine Konzentration geht gegen null. Ich fange etwas an und bringe es nicht zu Ende. Wenn der Tag anbricht und ich im Morgendämmern überlege, was ich heute schaffen will, sind mir diese Vorhaben bis zum Frühstück schon wieder aus meinen Kopf gekrabbelt. Das ist so gar nicht meine Art. Ich stecke in einem Leben fest, das mich nicht loslassen will. Einem neu rhythmisierten, immer noch angekratztem Leben, in dem sich meine ganze Energie offenbar darauf zu richten scheint, meinen Körper wieder komplett herzustellen. Irgendwie haben wir immer die Vorstellung, alles müsse so bleiben wie es war. Wir haben für immer ein gutes Leben und  das Schicksal bleibt uns gewogen. Der Nagel in meinem Arm erinnert mich daran, dass das ein Trugschluss ist.

Obwohl ich wild entschlossen bin, es endlich zu schaffen, meinen neu zusammengesetzten Arm wieder über den Kopf zu heben, gelingt es mir nicht. Zwei Schrauben sind ein mechanischer Widerstand, der es unmöglich macht. Als Mensch, der Grenzen ungern akzeptiert, ist das schwer hinnehmbar. Das wär doch gelacht. Ich mache meine Übungen und trainiere, bis mir die Tränen kommen – mein Arm bleibt bei 60 Grad Hebung stehen. Eigensinnig und störrisch. Mein entschlossenes „Ich will aber“ ignoriert er völlig. Ich werde ungeduldig, mag nicht mehr. Heule mich bei meinem Physio-Max ein bisschen aus. Der ist eine herrliche Mischung aus herzlich und ungerührt. Packt meinen Arm und dehnt ihn, dass mir erst recht so richtig die Tränen kommen. So gehen sie also weiter, meine beschämenden Versuche, mir die Haare hochzustecken, Geschirr aus dem obersten Regal zu heben oder die Wäsche an die Wäscheleine zu klammern. Zugegeben, das teile ich nicht gern mit der Öffentlichkeit. Auch nicht die Tatsache, dass zwischen der ersten Zeile und hier drei Wochen liegen. Und doch mache ich es. Weil in diesen drei Wochen ’ne Menge passiert ist, weil Zeit vieles relativiert. Die griechischen und römischen Philosophen, die man als Stoiker bezeichnet, lebten nach der Devise: Finde heraus, was du beeinflussen kannst und was nicht. Was du beeinflussen kannst, kannst du anpacken. Was du dagegen nicht beeinflussen kannst, darüber solltest du keine Gedanken verschwenden. Beim Kontrolltermin bei meinem Chirurgen vor einer Woche erlebte ich von ihm das erste Mal sowas wie unverhohlenes Erstaunen. Anerkennend hob er die Augenbrauen und meinte: „Dass Sie das schon können, hätte ich nicht erwartet. Erstaunlich bei der Schwere der Verletzung und der Zeit, die sie erst zurückliegt.“ Mit diesem einen Satz hat er es geschafft, dass sich die alles durchdringende Furcht vor Stagnation einfach so aufdröselte. Das war erstaunlich. Mit diesem Satz kann ich weitermachen.

Mein ehemaliger Germanistikprofessor sagte immer: „Bestimmte Dinge erledigen sich von selbst.“ Damals fand ich diesen Satz eher angsteinflößend als lockermachend. Er vermittelte mir das Gefühl von einer Art Beliebigkeit meines Tuns. Katastrophensatz für Perfektionisten und Macher. 30 Jahre später habe ich ihn begriffen. Manchmal quält man sich mit Gedanken und Dingen, verschwendet darauf Energie und Zeit und Lebensfreude, um am Ende festzustellen, dass es vollkommen sinnlos war und nur schlaflose Nächte eingebracht hat.

Menschen sind in ihrem Zufriedenheitsempfinden sehr unterschiedlich. Ich gehöre zu denen, die es zufrieden macht, wenn sie einen rechtschaffenen Tag hatten. Wenn ich abends sagen kann, ich habe was geschafft. Das, was ich schaffen kann, mit einem fremden Teil in meinem Arm, der fremd bleiben wird, solange er in meinem Körper sitzt. Und ehrlich, das ist eine Menge. Im Herbst wird mein zweiter Roman erscheinen. Ja, wirklich.

Habt es gut und bleibt gesund. Grüße, eure Manu W.

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