top of page
Manuela Wicher

Allet jut?!

Mein Vater ist nicht mehr auf Erden. Mutig und klaglos, genauso wie er gelebt hat, ist er in die andere Welt aufgebrochen. Hat uns alleine hier gelassen, nachdem er wie ein verwundeter, aber irgendwie magisch unbesiegbarer Krieger dem Leben Jahr um Jahr abgetrotzt hat. 

Ich kann mich nicht an diesen Gedanken gewöhnen. Es auszusprechen, ist kaum möglich, es aufzuschreiben, fühlt sich ebenso falsch an. Alles ist schwarz geworden mitten im Sommer.

Die letzten Wochen waren wie in einem Film. Nur, dass wir  die Protagonisten waren. Ich wundere mich, dass ich sie überlebt habe. Krankenhaus, Diagnose, Paps nach Hause holen, Tage des Begleitens, nach außen gefasst und funktionierend, nach innen weinend und schreiend. Wir alle waren kopf-und herzschwebend, die Vortrauer setzt vor der Trauer ein. 

In meinen Kindheitserinnerungen ist er der ruhige Pol unserer Familie, der unser Leben ohne großes Aufhebens begleitet. Er ist da, ein verlässlicher Anker. Ich erinnere mich an unsere Rituale: immer gemeinsame Essen, samstags Spiele- und Fernsehabend, am Sonntag die große Runde übern Ballenberg oder zum Stausee. Wir fahren jedes Jahr im Sommer weg, an Seen, in Wälder. Mein Vater schwimmt mit mir große Runden, weit raus, bis in die Mitte des Sees. Er zeigt mir Pilze, die man essen kann und versucht, mir Volleyball spielen und Schlittschuh laufen beizubringen. Er lernt mir geduldig das Einparken, wieder und wieder erklärt er mir, wie ich das Lenkrad einschlagen soll und zürnt nicht, wenn es auch beim hundertsten Versuch nicht klappt. Er hat immer Vertrauen in mich, selbst als ich es nicht habe. 

Mein Paps konnte seine Gefühle nicht gut zeigen, wie die meisten Männer seiner Generation ihre Gefühle nicht gut zeigen können. Und doch war fühlbar, wie sehr wir ihm wichtig waren. Er drückte seine Zuneigung in Taten aus: Unzählige Male fuhr er mich an Flughäfen, Bahnhöfe, Bushaltestellen oder holte mich davon ab, malerte jede meiner Wohnungen mit mir, baute meine Schränke auf, fuhr mit mir in Baumärkte und pflanzte meine ersten Tomaten.  Für meine Kinder ist er dasselbe und noch mehr. Er hat mehr Zeit fürs Leben. Wenn ich an Glück denke, dann sehe ich ihn zusammen mit meinen Kindern auf dem Teppich toben, Pfeile schnitzen und Baumhäuser bauen, ihnen Geschichten erzählen und Bücher anschauen. Er wurde als sehr junger Mann Vater und als junger Mann Großvater. Wenn Menschen ihn erstaunt auf sein Alter ansprachen, schaute er sie an als wollte er sagen: Ja, und? Spielt das eine Rolle? Vielleicht ist das der Grund, warum er immer so jung aussah: Alter interessierte ihn einfach nicht.

„Allet jut.“ Mit diesen zwei Worten hat er uns immer versichert, dass wir uns keine Sorgen machen sollen. Es war wie eine tägliche Beschwörung, ein Mantra: „Allet jut“. Er warf es uns zu und wir trugen es durch die Jahre.

Selten hat mein Vater meinen Namen voll ausgesprochen. Ela hat er mich genannt. Ich habe den Klang im Ohr: „Ela.“ Ein langes Dehnen des „E“, die altvertraute Berliner Intonation. Die Erinnerung daran ist so schön und so traurig.

Wir haben uns immer mit den Worten „Bye-bye, Tschau-Tschau“ verabschiedet. Ich habe es beim Runtergehen die Treppenstufen hochgeschmettert und er hat es zurückgeworfen. „Bye-bye, Tschau-Tschau“. Nie wieder wird jemand mit mir dieses Abschiedsritual haben.

Ich fühlte mich ihm sehr verbunden, mein ganzes Leben lang, immer noch. Von ihm habe ich freies Denken, Stärke und Akzeptanz gelernt. Wir konnten ohne Worte nebeneinander sitzen und waren uns gedanklich nah. Das kann man nicht mit vielen Menschen.

Ein Bild von der Beerdigung geht mir nicht aus dem Kopf. Schiebt sich beharrlich in mein Gehirn und greift an mein Herz. Meine Mutsch, wie sie mit ihrem roten Haar und der roten Rose vor der Urne ihres Mannes steht. Klein und verloren, mit einem Zittern, das nicht aufhören will. Das ist schwer aushaltbar.

Wir haben unseren Vater verloren, sie ihren Mann. Manchmal hat sie mit einem stillen Vorwurf in der Stimme zu mir gesagt: „Du schlägst dich immer auf seine Seite.“ Die Wahrheit ist, dass sie so fest an seiner Seite stand, wie man einem Menschen nur an der Seite stehen kann. Die ganzen Jahre, bis zum Schluss.

Unsere Leben gehen weiter, mit unseren Männern, Frauen, Kindern, ihres ist abgeschnitten. Ich schäme mich dafür. Das ist irrational, ich weiß, aber es ist so. Selten wollte ich sie so sehr halten und beschützen wie jetzt.

Ich glaube, mein Vater ist so lange, entgegen aller ärztlichen Prognosen zum Trotz, bei uns und in dieser Welt geblieben, weil er ahnte, dass wir nicht wussten, wie es geht: ohne ihn weiterzuleben. Wenn wir das nun schon eine Weile geschafft haben, dann werden wir alles, was noch kommen mag, auch schaffen.

46 Ansichten

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Übergang

Nach dem ersten Schweigen kann ich darüber reden. Über die plötzliche Leere in unserem Leben. Ohne das Dasein meines Vaters. Ohne sein...

Zeiten des Wandelns

Als wir, meine Geschwister, Mann und Hund, am Neujahrsmorgen traditionell unseren Neujahrsspaziergang machten, war über dem weiten...

Freiheit im Kopf

Meine Konzentration geht gegen null. Ich fange etwas an und bringe es nicht zu Ende. Wenn der Tag anbricht und ich im Morgendämmern...

Comentários


bottom of page