Das Leben ist sonderbar. Es überrascht einen immer wieder aufs Neue. Genau dieser Überraschungsmoment ist es, den ich am meisten liebe. Er ist wie ein Leuchtturm, der aus dem täglichen Allerlei herausragt. Man erinnert sich doch vorwiegend an das aus dem Alltag Herausgefallene, an den besonderen Moment. Jetzt aber bin ich vorsichtiger geworden.
Anfang Januar. Ich laufe im frischgefallenen Schnee an der Gera – Aue entlang. Das Sonnenlicht fällt durch das sanfte Schneegeriesel, ich strecke die Zunge raus und versuche die Flocken einzufangen. In diesem Moment bin ich wieder zehn. Mein Hund rennt übermütig neben mir her, wir zeigen uns gegenseitig unsere Zungen. Ich werfe ihn mit einem Schnellball ab. Noch bin ich frohgemut. Mein Leben steht auf D – Dur. Bis zu dem Moment, wo ich falle. Mit einem Mal. Sekundenschnell. Ich höre, wie etwas knackt und spüre einen stechenden Schmerz. Kauere wie Aschenputtel beim Linsenlesen auf dem vereisten Boden An diesen Moment werde ich mich wohl ein Leben lang erinnern und ihn mein weiteres Leben lang fürchten. Ich hatte mich auf mein Glück verlassen. Mich eingehüllt in seine trügerische Sicherheit. Ironie des einen Momentes?
Für einige Minuten kralle ich mich mit den Händen in den zugefrorenen Boden und versuche aufzustehen. Vergeblich. Ich liege auf der überschneiten Eisfläche und mit einem Mal bin ich ganz allein auf der Welt. Ich kann es nicht begreifen. Meine ganze magische Kraft ist scheinbar verloren gegangen, ich bin in einer luftleeren Gegenwart gelandet. Mein Hund leckt mir übers Gesicht. Dann setzt er sich neben mich und wartet. Wartet, bis ich mich irgendwann hochgerappelt habe. Wartet, bis ich den ersten Schritt wage. Und noch einen und noch einen. In Zeitlupe, wie in einem Comic. Dann nimmt er seine Leine ins Maul und setzt sich in Bewegung. Bei jedem Schritt, den ich tue, sieht er mich an. Er scheint zu spüren, dass sich meine einst so ruhige und sichere Existenz aufgelöst zu haben scheint. So laufen wir einen Kilometer nebeneinander her, als gäbe es die Welt um uns her nicht mehr. Verschwunden in diesem einen Moment.
Inzwischen sind 5 Wochen vergangen. Meine in mehrere Fragmente zerbrochene und absonderlich verschobene wunderbare rechte Schulter wurde kunstvoll zusammengesetzt. Ich bin eine Cyborgin, zusammengefügt mit Nagel und Schrauben. Nichts ist wie vorher. Aber manchmal, wenn eine Welt zu verschwinden droht, entsteht daraus eine neue. Ich habe erfahren, dass neben meiner vertrauten Welt eine andere Welt existiert. Eine Welt, in der Krankheit, Ängste, Abhängigkeiten und Verzweiflung den Part übernehmen. Und die man erst wahrnimmt, wenn man selbst ein Teil davon geworden ist.
Ich habe im Krankenhaus hilfsbereite und freundliche Menschen kennengelernt. Ich habe gesehen, dass in jedem Bett ein anderes Schicksal lag und begriffen, dass unser Leben nicht nur von unseren Entscheidungen abhängt. Der Arzt, der mich dreieinhalb Stunden operierte, wirbelte in den ersten 24 Stunden ständig an meinem Bett vorbei. „Können Sie die Finger bewegen? Macht nichts, wird noch.“ Seine feste Überzeugung hat jeden kleinsten Zweifel zerstreut. Ich habe eine großartige und empathische Physiotherapeutin und einen herrlichen und leidenschaftlichen Physiotherapeuten. Mein Clan, Familie und Freunde sind meine feste Burg. Ich habe mein inneres Gleichgewicht wiedererlangt. Bin wieder eine Glücksentschlossene.
Es scheint, als wirkten alle schweren Zeiten wie ein Schutzschild für uns. Wir werden durch den anderen nicht vom Übel erlöst, aber wir finden Trost und Kraft. Der Frühling fängt an zu knospen. Am Ende einer jeden Geschichte fängt eine andere an.
Bleib gesund und hab es gut!
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