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Manuela Wicher

Übergang

Nach dem ersten Schweigen kann ich darüber reden. Über die plötzliche Leere in unserem Leben. Ohne das Dasein meines Vaters. Ohne sein verschmitztes Lächeln, seinen Humor, seine  menschliche Größe. Ich glaube, dass er glücklich in seinem Leben war. Trotz Krankheit, trotz Einschränkungen. Seine Wahrheit über das Leben war einfach: Genieße, was du hast und akzeptiere, was nicht zu ändern ist. Mein Vater ist 82 Jahre alt geworden. Die Ärzte hatten ihn nach seiner zweiten Herzoperation keine lange Lebenszeit mehr prognostiziert, aber mein Paps hat sich nicht daran gehalten. Er war zwar verwundet vom Leben, aber nie enttäuscht. Gelassen hat er sich neue Glücksinseln geschaffen und das Leben weiter geliebt. Andersrum war es wohl genauso.   

Nach all den anstrengenden Wochen, in denen ich arbeitete und funktionierte, aber alles in mir stumpf und matt war, bin ich weggefahren. Ich konnte daran nichts Tröstliches finden, vermisste beim bloßen Gedanken daran schon meinen Hund, die abendlichen Besuche auf dem Friedhof und meine Familie. Mein Mann hat mir ein Hotelzimmer gebucht und mein Sohn hat mich am Bahnhof erwartet.  

Es hat tagelang unerbittlich geregnet. Wasserüberflutete Welt. Ich lief stundenlang durch den Regen und konnte endlich wieder schlafen. So plötzlich, wie der Regen aufgetaucht war, genauso plötzlich kam die Sonne. Hell und warm und nur noch die grüngraublauen Donauwellen erinnerten an die Flut. Es war erstaunlich, wie schnell das Dunkel zerflossen war. Wie sich der Himmel wieder mit Licht füllte und weit wurde.

Schönbrunn, Karlsplatz, Hofburg, Museumsquartier, Donauinsel … - Auf meinen ausgetrampelten Wienwegen war ein neuer Raum entstanden. Darin  begann sich mein Leben wieder nach Leben anzufühlen. Auch wenn es sich nun anders anfühlt. Ich habe mich verändert. Spüre plötzlich Dinge, die ich nie zuvor gespürt hatte. Beginne zu ahnen, was wichtig und was nicht so wichtig ist.

Mein Paps ist in ein dahinterliegendes Leben eingetreten. Auch er ist ein anderer geworden. Und meine Mutter, die Mutige, wird ihr Haus verkaufen und in unsere Nähe ziehen. Das ist die größte Veränderung in ihrem Leben, seit sie vor 64 Jahren mit ihrem Mann in dieses Haus gezogen ist.

Wir werden immer andere. Immer wieder, ein Leben lang und darüber hinaus. 

Auf einem Spaziergang durch die Schönbrunner Alleen, habe ich die erste Kastanie des Jahres gefunden. Ich habe sie in meine Jackentasche gesteckt, so, wie ich es seit Jahren schon mit der ersten Kastanie des Herbstes mache. Habe immer wieder nach ihr getastet, ängstlich, sie zu verlieren. Sie soll mich als Talisman durch den Herbst begleiten, an ihr kann ich mich festhalten. Bis der erste Schnee kommt. Dann höhle ich ein kleines Loch in die Erde und lege sie hinein. In der Hoffnung, aus ihr wird ein neuer Kastanienbaum sprießen. Das alles mag kitschig und komisch klingen oder wie eine bemühte Metapher, aber ich für meinen Teil kann ehrlich sagen: Es ist ein Teil meiner Wirklichkeit.

Komm gut in den Herbst und „Nur ned hudeln“, wie die Wiener sagen würden.

Von Herzen, Manu.

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